1.
Der Tag brach mit einer Übelkeit erregenden Mischung aus Lärm, schmutzigem Licht und einem nur allzu wohlbekannten Gestank auf ihn herein – mal wieder. Er machte sich nicht die Mühe, zu versuchen, eine Erinnerung an den letzten Abend aus seinem schmerzhaft pulsierenden Kopf herauszusaugen – was sollte es bringen? Er war hier, lag in Jeans und karriertem Hemd auf seinem schlampig bezogenen Bett und der Geruch von Erbrochenem stieg ihm in die Nase – das sagte genug; mehr wollte er gar nicht wissen.
Er gähnte noch einmal, dann stand er auf und warf einen angewiderten Blick auf seinen vollgekotzten Teppichboden.
“Scheisse!”
Dabei war der Geruch von seinem letzten Absturz noch nichtmal vollständig verschwunden gewesen – was sollte nur aus einem Tag werden, der so anfing? Draussen auf dem Etagenflur musste irgendwo ein
Putzeimer mit einem alten Aufnehmer stehen. Er sah kurz in den Spiegel, der über dem kleinen Waschbecken hing, das neben der Eingangstüre seines kleinen Einzimmerappartements angebracht war: Hackfresse – dabei sah er, wenn man seinen Zustand berücksichtigte, heute eigentlich gar nicht so
schlecht aus. Sein dünnes, fettiges Haar fiel ihm nicht platt in die Stirn hinein, wie sonst, wenn er es
gewaschen hatte, wodurch seine blauen Augen und seine markante Nase besser zur Geltung kamen. Eine Ironie, dass er immer dann gut aussah, wenn er sich eigentlich beschissen fühlte.
Er öffnete die Wohnungstüre und ging schwankend auf den Flur hinaus – keine heftigen Bewegungen, ihm war immer noch übel. Erst jetzt machte er sich Gedanken darüber, wie spät es wohl sein mochte –
es war noch fast dunkel draussen, also wohl so etwa 5 Uhr morgens. Offenbar hatte er nur sehr kurz geschlafen. Aber gut, so würde ihm jedenfalls keiner der anderen Mieter dabei zusehen, wie er verkatert und und übellaunig über den Flur stampfte. Besser so.
Er nahm den Eimer, der wie immer hinter dem Vorhang am Fenster stand, ging zurück in sein Zimmer und begann, die Spuren der letzen Nacht zu beseitigen. Dann spülte er ihn im Waschbecken aus und stellte ihn erstmal neben den Kleiderschrank auf den Boden – zurückbringen konnte er ihn später, erstmal würde er sich wieder schlafen legen. Es war Sonntag – also keine Schicht heute.
2.
Was sie wohl dachten, wenn sie so an ihr vorbeiliefen? Die meisten warfen ihr wenigstens einen kurzen Blick zu, bevor sie sich wieder eines besseren besannen und wohlerzogen geradeaus schauten.
Lüsterne, verlogene Schweine, dachte sie. Diese abfällige Blicke, aber dann spät nachts, wenn Frau und Kind sicher verstaut in ihren Betten lagen, zu ihr kommen und mal eben eine schnelle Nummer im Auto schieben. Strassenhure – viel tiefer konnte man wohl nicht sinken, und die meisten ihrer Freier liessen sie das deutlich spüren.
Jetzt gerade kam wieder eine zu ihr herüber, glotzte, und stellte sich dann wie zufällig vors nächste Schaufenster. Alles für den Modellbau – völlig klar, du Idiot.
“He, Süsser! So allein heute abend?”.
Der älteste Spruch, aber der zog immer noch am besten. Der Idiot schaute kurz zu ihr rüber, tat dann aber so, als ob er sie nicht gehört hätte.
“30 Euro, für 40 darfst Du sogar zweimal rann!”
30 Euro? 30 Euro. Das Geschäft war hart geworden…
Jetzt endlich drehte er sich um und kam langsam auf sie zu – na also.
“30 Euro, für eine Stunde. Wofür hältst Du Dich – für Cindy Crawford?”
Cindy Crawford würde einen notgeilen Versager wie Dich nicht mal für 30 Millionen ranlassen, dachte Sie – aber sie wusste, wenn sie mit solchen Sprüchen erstmal anfing, könnte sie einpacken – einpacken
und dann unter der Brücke schlafen, wie letztes Jahr, als ihre Neurodermitis wieder ausgebrochen war und sie kurzfristig ihre Wohnung verloren hatte.
“35, Süsser, und Du wirst diesen Abend nie vergessen…”
Offenbar reichte es ihm, ihr die fünf Euro abgerungen zu haben – nötig hatte er es nicht, dass sah man deutlich an dem teuren Jacket und den ledernen Designerschuhen, die er trug. Aber von einer billigen Nutte wie ihr liess sich ein anständiger Mann wie er doch nicht den Preis vorschreiben.
Er fasste sie am Arm und zog sie herüber zur nächsten Strassenecke, wo sein Auto stand – Mercedes S-Klasse, augenscheinlich ein Neuwagen.
“Komm rein und mach keine Zicken. Und mach mir bloss keine Flecken auf die Polster.”
Das, und der goldene Ehering an seinem Finger.
Noch zwei Kunden, dann würde sie ihr Soll für heute erfüllt haben.
3.
Das zweite Aufwachen war etwas besser. Zwar brummte ihm immer noch der Schädel, aber wenigstens war ihm nicht mehr so speiübel wie beim ersten Mal. Er verspürte sogar einen gewissen Appetit. Er schaute auf seine abgeschlissene Armbanduhr – Viertel vor fünf, abends. Kein Wunder also, das er Hunger hatte.
Er brauchte nicht erst in den Kühlschrank zu schauen, um zu wissen, dass er keine Vorräte mehr hatte – das Frühstück musste also ausfallen. Würde er eben an der nächsten Bude einen Döner essen gehen – spät genug war es ja.
Er warf sich seine zerlumpte Jeansjacke über die Schultern und lief polternd die schmutzige Flurtreppe hinab. Draussen empfing ihn mieseliges, unangenehm kaltes Oktoberwetter. Der Vorsatz, noch einen
Spaziergang zu machen und sein Mittagessen an einem etwas ausserhalb gelegenen Stand zu besorgen, schwand dahin – er würde zum Istambul-Grill
zwei Strassen weiter gehen. Und danach vielleicht wieder schlafen – heute war eh nichts los, die Strassen waren leer bis auf ein paar einzelne Muttis, die
mit blöde entrücktem Lächeln ihre Kinderwagen durch die Gegend schoben. Sonntag eben.
4.
Wieder die gleiche Strassenecke wie vor drei Stunden. Der Idiot mit dem Mercedes war nachher richtig ätzend geworden, hatte sie schlagen wollen. Sie hatte Glück, dass sie überhaupt ihr Geld bekommen hatte. 35 Euro für einmal einen anderen Menschen wie den letzten Dreck behandeln dürfen – ein Spottpreis, eigentlich. Der nächste war auch nicht besser, hatte sie erst mit seinem Auto zu seiner Wohnung gefahren, ihr freundlich und zuvorkommend ein Glas Wasser angeboten, um ihr dann zu eröffnen, dass er auf ihre Brüste urinieren wolle – dabei hatte sie gesagt, dass diese Dinge für sie tabu waren. In solchen Momenten fürchtete sie, dass ihr all das eines Tages einfach zu viel werden würde, und sie fragte sich, wie es dann wohl weitergehen würde.
Erstmal aber stand sie wieder hier, ihr Gesicht verdeckt unter einer dicken Schicht billiger, aufreizender Schminke, und hielt Ausschau nach dem letzten Kunden für heute.
5.
Träge stützte er sich mit dem linken Ellbogen auf den weiss gestrichenen Metalltisch, der am Fenster der Imbissstube stand. Während er mit mässigem Appetit an einem zweitklassigen Dönerburger herumkaute, betrachtete er die Leute, die auf beiden Seiten der Strasse an ihm vorbeiliefen. Neben den zu erwartenden entrückten Muttis traf man auch vereinzelte Pärchen – es hatte zu regnen aufgehört, und sie nutzten diese Gelegenheit zu einem Spaziergang, romantisch und engumschlungen – ebenfalls nicht der richtige Anblick für einen verkaterten Sonntag Nachmittag.
Ein Stück weiter hinten, direkt neben einem Fachgeschäft für Modellbau, stand eine von diesen billigen Strassenhuren – aufgedonnert wie ein Weihnachtsbaum in einer amerikanischen Kitsch-Schnulze. Das sie sich nicht schämte – wobei, wenn er an seinen Tag heute dachte, sollte er sich solche Sprüche vielleicht lieber sonstwo hinstecken. Ausserdem – jetzt, wo er sie näher betrachtete, merkte er, wie traurig sie aussah. Wahrscheinlich schämte sie sich tatsächlich.
6.
Irgendwie lief es heute nicht. Sie hatte vorgehabt, rechtzeitig zuhause zu sein, um in Ruhe vor dem Fernseher zu Abend essen können – ein Rest Wochenende, sozusagen. Aber mittlerweile war es spät geworden, ihr Magen knurrte, und ausserdem taten ihr die Füsse weh nach dem langen Stehen. Würde sie halt zur Pommesbude gegenüber gehen und da zu Abendessen – eine Currywurst, oder einen Bigmac.
Während sie die Strasse überquerte, fragte sie sich, was sie in den Augen der Passanten jetzt wohl darstellte – war sie immer noch die Nutte vom Strassenrand, oder war es ihr vielleicht gelungen, ihren Beruf an ihrem Standplatz zurückzulassen, um wenigstens für die Zeit ihrer Essenspause so etwas wie ein Mensch zu werden? Sie dachte an ihr grelles, dickes MakeUp,
an ihre hohen Stiefel, die enge Hose und die überdeutlich weit ausgeschnittene Bluse – dann warf sie einen Blick auf die Gesichter der
seligen Muttis mit ihren Kinderwagen und verwarf diesen Gedanken wieder. Und zog sich wieder auf ihre Gleichgültigleit zurück – abendessen, noch irgendso ein lahmarschiger Freier, und dann nach Hause ins Bett. Sollten die Leute doch denken, was sie wollten.
7.
Als er sie über die Strasse auf sich zukommen sah, dachte er zuerst, sie hätte seine Blicke bemerkt.
Deshalb wollte er schon wegschauen, ihm war nicht nach einer schnellen Nummer für billiges Geld zumute. Dann aber bemerkte er, dass sie ihn gar nicht ansah – sie wirkte im Gegenteil abwesend und völlig gedankenverloren. Einen Moment lang schien es, als sähe sie eines der an ihr vorbeirasenden Autos nicht – er verkrampte sich auf seinem Stuhl, wobei es sowieso zu spät gewesen wäre, ihr zu helfen – aber dann blieb sie doch noch rechtzeitig stehen. Er sah, dass sie den Mund öffnete, wohl, um dem Fahrer hinterherzurufen – hören konnte er nichts, die Türe der Imbissbude war jetzt im Oktober natürlich geschlossen.
Einen Moment später hatte sie die andere Strassenseite erreicht, schob die Türe auf und betrat den lieblos dekorierten Verkaufsraum – er sah, wie sich ihr Körper entspannte, sobald sie ins Warme gekommen war. Ihm
wurde bewusst, wie durchgefroren man sich fühlen musste, wenn man bei
diesem Wetter draussen auf der Strasse stand – stundenlang, mit der knappen, viel zu dünnen Kleidung, die ihr Beruf ihr aufzwang.
Sie bestellte ein einfaches Standardmenu, setzte sich ein Stück weit von ihm entfernt an einen unbesetzten Tisch und schaute mit stumpfem, teilnahmslosen Blick aus dem Fenster. Wieder fiel ihm auf, wie traurig dieses Gesicht aussah, das sie so sorgfältig hinter einer dicken Schicht Schminke zu
verstecken versuchte. Er zögerte einen Moment, dann stand er auf, bestellte an der Theke zwei heisse Tassen Kakao und setzte sich zu ihr.
8.
Sie sah den dampfend heissen Pappbecher erst, als er direkt vor ihr stand.
Verstört blickte sie auf und sah in das Gesicht des übernächtigt aussehenden Mannes, der sich gerade zu ihr gesetzt hatte – ihr erster Impuls war es, den Typen mit irgendeiner patzigen Bemerkung zu verscheuchen – wenigstens beim Essen wollte sie ihre Ruhe haben. Dann aber entschied sie sich doch
dagegen – der heisse Kakao war genau das, was sie im Moment brauchte, und was sie sich nur aus Gründen der Sparsamkeit, die sich sich momentan nunmal auferlegen musste, nicht selbst gekauft hatte. Ausserdem fühlte sie sich zu müde, um irgendeinen unnötigen Streit vom Zaun zu brechen. Und,
schliesslich, sie war ja nach wie vor auf der Suche nach ihrem letzten Kunden für heute.
“Vielen Dank…”
Mehr fiel ihr nicht ein. Sie legte ihre Hände, die immer noch rot von der Kälte draussen auf der Strasse waren, um den dampfenden Becher und hielt dem Blick ihres Gegenübers stand.